
Am Anfang steht eine Legende. Die Legende eines Laufes, der
mit dem Tod des erschöpften Läufers endet. Auf diesem historischen Mythos
basiert heute, über zwei Jahrtausende später das Massenspektakel Marathon.
Und das, obwohl die Historiker heute fast sicher sind, dass dieser erste
"Marathonlauf" in der Antike gar nicht stattgefunden hat. Dennoch ist im
Rückgriff auf diese Legende vor 105 Jahren die Disziplin Marathon als
Bestandteil des modernen Sports "erfunden" worden.

Im September 490 v. Chr.
stand auf der Küstenebene bei Marathon westlich von Athen ein zahlenmäßig
deutlich überlegenes Heer der Perser den Streitkräften Athens gegenüber.
Dennoch gingen die Soldaten der attischen Demokratie als Sieger aus dieser
Schlacht hervor. So weit ist die Geschichte unumstritten. Was dann folgt,
ist allerdings mehr Dichtung als Wahrheit: Der Legende nach schickte der
siegreiche Feldherr Miltiades nach dem Kampf einen Boten ins knapp 40
Kilometer entfernte Athen, um der Stadt möglichst schnell den glorreichen
Triumph zu verkünden. Die Botschaft konnte der ausgelaugte Bote noch
überbringen, danach aber brach er zusammen und starb.
Diese Heldengeschichte verdankt die Welt dem griechischen Historiker
Plutarch, der die offensichtliche Faktenarmut über den glorreichen Sieg
der Athener knapp 560 Jahre danach mit dieser Anekdote anreicherte. Ein
Mann namens Eucles war laut Plutarch der Vorläufer der heutigen Marathonis.
Dass heute hingegen ein gewisser Pheidippides als erster "Marathonläufer"
gilt, ist eine Legende innerhalb der Legende. Danach ist jener
Pheidippides nämlich eine Art Ultramarathon-Mann der Antike. Wenige Tage
vor der entscheidenden Schlacht soll er mit einem Hilfegesuch Athens ins
knapp 250 Kilometer entfernte Sparta gejoggt sein.

Dass dieser Bote
danach auch noch die Nachricht des Sieges vom Schlachtfeld in Marathon
nach Athen getragen haben soll, muss als "romantische Erfindung"
bezeichnet werden. Überhaupt hat das Zeitalter der Romantik in Europa
einen großen Anteil an der Entstehung des modernen Marathons. Der
griechische Unabhängigkeitskampf gegen die Türken im Jahre 1832 sorgte für
eine wahre Sympathiewelle bei den Romantikern, die sich in diesem
Zusammenhang natürlich auch an den Sieg gegen die persischen Eindringlinge
in der Antike inklusive des Botenlaufs erinnerten.
Es ist daher kaum verwunderlich, dass ausgerechnet ein Spezialist für
griechische Mythologie die Idee hatte, einen Lauf von Marathon nach Athen
ins Programm der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit aufzunehmen. Der
Franzose Michel Breal machte den Vorschlag auf der ersten Sitzung des
Internationalen Olympischen Kongresses 1884.

Zwei Jahre später war es dann soweit. Am
10. April 1896 um 13.56 Uhr startete im Örtchen Marathon der erste
offizielle Marathonlauf in der Geschichte des Sports. Der griechische
Schafhirte Spiridon Louis erreichte nach 2:58:50 Stunden als erster der 18
mutigen Teilnehmer den Zielstrich im Panathenischen Stadion in Athen.
Die Strecke des ersten Marathons der Geschichte betrug allerdings nicht
die heute üblichen 42,195 Kilometer, sondern "nur" knapp 40 Kilometer.
Erst 28 Jahre später, nach den Olympischen Spielen von Paris, wurde die
heutige Marathondistanz endgültig festgelegt. Davor galten alle
Straßenläufe, die um die 40 Kilometer lang waren als Marathon. Die heute
gültige Streckenlänge wurde allerdings bereits erstmals bei den
Olympischen Spielen 1908 in London gelaufen. "Verantwortlich" dafür war
das englische Königshaus. Denn vom Schloss Windsor bis zur königlichen
Loge im Wembley Stadion waren es exakt 42,195 Kilometer
.
Der
olympische Marathonlauf von London ist allerdings nicht zuerst wegen
seiner Distanz in die Annalen der Sportgeschichte eingegangen. Es war das
dramatische Finale, das nicht nur dieses Rennen, sondern auch die junge
Disziplin überhaupt in aller Welt bekannt machte: Exakt 355 Meter waren es
noch bis zum Ziel, als Dorando Pietri nach zwei Stunden und 45 Minuten ins
Wembley Stadion einlief. Doch für die letzte Runde benötigte der Italiener
sage und schreibe 9:46 Minuten!
Fünf Mal brach er zusammen, blieb auf dem Boden liegen, um sich mit
letzter Kraft doch noch einmal aufzurappeln. Nach dem letzten Sturz kurz
vor der Ziellinie konnten es zwei britische Helfer nicht mehr mit ansehen
und stützen den völlig ausgelaugten Pietri. Aufgrund dieser unerlaubten
Hilfeleistung, wurde der tragische Held schließlich disqualifiziert. Zum
Olympiasieger wurde der 22-jährige Amerikaner John Hayes erklärt, der als
Zweiter ins Stadion gelaufen kam.

Das Drama von
London inspirierte amerikanische Sportvermarkter dazu in der Folgezeit
einige Revancheläufe zwischen Hayes und Pietri zu veranstalten. Und damit
der Zweikampf auch tatsächlich den olympischen Marathon in der britischen
Hauptstadt simulierte, musste die Strecke natürlich exakt die gleiche
Länge haben. So setzten sich die 42,195 Kilometer allmählich als die
Marathondistanz durch, die schließlich 1924 offiziell fest geschrieben
wurde.
Die nachgestellten Olympiaduelle zwischen Pietri und Hayes lösten zwar
einen wahren "Marathon-Wahn" in den USA aus, waren allerdings nicht die
ersten Rennen ihrer Art in den USA. Bereits am 19. April 1897, also fast
exakt ein Jahr nach dem ersten olympischen Marathon von Athen, feierte der
Boston-Marathon seine Premiere. Das traditionsreiche Rennen muss somit als
der Vorläufer jener Citymarathons gelten, die heute weltweit veranstaltet
werden.

Zu Beginn
der Marathongeschichte waren die Läufe nur einer Hand voll Asketen
vorbehalten, die nach Ansicht einiger Funktionäre allerdings eher in die
Irrenanstalt als auf die Straße gehörten (So zumindest urteilte der
damalige Chef des US-Sportverbandes American Athletic Union (AAU) über die
15 Teilnehmer des ersten Boston-Marathons). Aufhalten konnte das die
Entwicklung des Marathons jedoch nicht.
Im Gegenteil: Mit dem Aufkommen der Jogging-Bewegung in den USA in den
sechziger und siebziger Jahren entwickelte sich der Lauf über die
mystische Distanz zum Breitensportspektakel. Der New-York-City-Marathon,
erstmals 1970 veranstaltet, war Vorreiter für diese Entwicklung zur
Massenveranstaltung. Mit ein wenig Verspätung schwappte dann nicht nur die
Joggingwelle nach Europa, sondern auch die City-Marathon-Veranstaltungen
für Jedermann. In Deutschland feierte der Berlin-Marathon 1974 seine
Premiere.

Dort durften
schon beim ersten Mal Frauen teilnehmen. Lange Zeit war den Sportlerinnen
zuvor jedoch die Teilnahme an Marathonläufen verwehrt geblieben. Schon in
der Vorbereitung auf die ersten Olympischen Spiele in Athen liefen zwei
Frauen die besagte Strecke von Marathon nach Athen, wurden jedoch zum
offiziellen olympischen Rennen nicht zugelassen. Die Griechin Stamathia
Rovithi benötigte etwas über fünf Stunden, ihre Landsfrau Melpomene hatte
die Strecke sogar in nur viereinhalb Stunden zurückgelegt. Doch die
Funktionäre kümmerte das wenig. Sie beharrten auf ihrem Standpunkt, ein
Marathon sei zu anstrengend für Frauen.
Dieses
Vorurteil überdauerte zumindest in olympischen Kreisen noch fast 100
Jahre. Erst 1984 in Los Angeles durfte sich die US-Amerikanerin Joan
Benoit mit einer Zeit von 2:24:52 Stunden als erste
Marathon-Olympiasiegerin in die Geschichtsbücher eintragen lassen. Am
traditionsreichen Boston-Marathon nahmen Frauen da schon seit zwölf Jahren
teil. Die Veranstalter des City-Marathons ließen 1972 erstmals Läuferinnen
starten, allerdings erst auf jahrelangen, massiven öffentlichen Druck hin.
Die Diskussion hatte die Läuferin Kathy Switzer ausgelöst. Die damals 20
Jahre alte Amerikanerin hatte 1967 das Startverbot ausgehebelt, in dem sie
sich nur mit ihren Initialen als K.V. Switzer für den Boston-Marathon
angemeldet hatte. Während des Rennens bemerkte einer der Offiziellen den
"Schwindel" und versuchte, Switzer von der Straße zu drängen. Die Bilder
dieser Groteske gingen um die Welt. Die anschließenden Proteste führten
wenige Jahre später dazu, dass auch Frauen zu Marathonis werden konnten.
Und das ganz "legal".
(Quellennachweis: WDR.de)
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